Der Königsweg zur Gelassenheit ist für die meisten Gehirnforscher die Meditation…

Nicht nur Meditation – alles bewirkt überhaupt nur irgendetwas im Gehirn, wenn man es mit Begeisterung tut. Deshalb können wir aufhö­ren, über Methoden zu reden. Die Neurobiolo­gie weiß: Nur wenn etwas unter die Haut geht, werden im Hirn die emotionalen Zentren ange­schaltet. Das sind Zellgruppen im Mittelhirn mit langen Fortsätzen. An den Enden dieser Fort­sätze kommen neuroplastische Botenstoffe he­raus. Und die wirken wie Dünger fürs Gehirn. So wachsen Netzwerke, die in einem Zustand der Begeisterung benutzt werden, besser.

Und wenn ich mich dafür begeistere, Patiencen zu legen oder Filme zu gucken?

Dann ist das bestimmt kurzfristig entspannend. Langfristig sollten wir immer darüber nachdenken, ob das, was wir tun, unserem Körper, unse­rer Seele, anderen Menschen und uns selbst gut tut. Aus neurobiologischer Sicht wäre es schön, wenn wir wieder zu Entdeckern werden.

Was hilft mir sonst noch, in Krisenzeiten gelassen zu bleiben?

Gerade in Krisensituationen sind ritualisierte Handlungen besonders wichtig. Denn Angst und Stress sorgen für Unruhe in den neurona­len Netzwerken des Gehirns. Die Nervenzellen feuern ungeordnet – und das sorgt für somatische Reaktionen: Die Knie werden weich, der Atem stockt, die Hände zittern. Wiederkehren­de Abläufe helfen in solchen Situationen enorm, denn sie synchronisieren die gestörte Beziehung der Nervenzellen, die Information fließt wieder in geordneten Bahnen. Man kann sich diesen Informationsfluss vorstellen wie Menschen, die im Park spazieren gehen und einem bestimmten Weg folgen, statt wild durcheinanderzulaufen.

Reden wir hier über die sprichwörtliche Tasse Tee, die die Nerven beruhigt?

Nur dann, wenn der Tee ganz bewusst in einer solchen Situation getrunken wird. Bewusste Rituale lenken den Blick nach innen statt nach außen – sie dürfen jedoch nicht zur Routine werden. Dann schwindet ihr Einfluss auf die neuronalen Prozesse im Gehirn. Deshalb kön­nen Routinen im Gegensatz zu Ritualen Irrita­tionen der Netzwerke nicht ausgleichen.

Kann ich Gelassenheit lernen?

Ja. Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, zu erfahren, wie es sich anfühlt, wenn sie etwas anders machen und gelassen bleiben. Dafür braucht es nicht endlos viele Einladungen, nur eine richtige. 800 Stunden Psychoanalyse sind eine Dauereinladung, auf die sich irgendwann niemand mehr einlässt. Neurobio­logisch reicht es, einmal eine sehr intensive Erfahrung zu machen. Jeder von uns kennt eine jugendliche Sehnsucht, die man als Erwachsener fast vergessen hat. Bei mir ist es das Bogenschießen. Es kann aber auch Vogelbeobach­tung, Gartenarbeit, simples Monopolyspielen oder In-einem-Bach-Planschen sein – man muss es einfach ausprobieren.

Warum machen wir so oft nicht das, was wir eigentlich wollen?

Weil unsere Erfahrungen uns auf eine bestimmte Art prägen. Die wichtigsten Erfahrungen machen wir mit anderen Menschen. Ob Streit mit den Eltern, sich verlieben oder ein fieser Lehrer – alles geht uns unter die Haut und bleibt im l Gehirn hängen. Erfahrungen verdichten sich im Frontalhirn zu einer Haltung. Man wird dar z.B. ängstlich oder zweifelt schnell an sich selbst. Was passiert dabei im Gehirn? Wenn wir eine Erfahrung machen, werden im Gehirn zwei j Netzwerke aktiviert. Eins ist kognitiv: Das rufen wir auf, wenn wir erzählen, was wir erlebt haben. Das andere ist emotional und bringt zum! Ausdruck, wie es uns dabei ergangen ist. Beide werden in der Erfahrung miteinander verkoppelt. Deshalb ist jede Haltung, die daraus erwächst, gleichzeitig Kopf- und Gefühlssache.

Wie können wir uns von falschen Mustern wieder frei machen?

Hier wird es spannend. Früher hielt man Haltung die ein Mensch entwickelte, für seine genetisch bedingte Persönlichkeit und damit für unabänderlich. Jetzt lautet die frohe Botschaft: Haltungen entstehen im Laufe des Lebens durch Erfahrungen. Folglich lassen sie sich durch Erfahrungen wieder ändern.

Und wenn der Wille zwar da ist, der Mensch aber nicht aus seiner Haut herauskommt?

Sein Verstand wird ihm dann nicht weiterhelfen. Kluge Worte oder Bücher bringen niemanden dazu, seine Haltung zu ändern, weil der emotionale Anteil nicht angesprochen wird. Versucht man umgekehrt, krampfhaft seinen Gefühlen zu folgen, kommt der kognitive Teil nicht mit. Man müsste diesen Menschen einladen, etwas Neues zu wagen. Allein wird er das meist nicht schaffen. Er braucht andere, die ihm Mut machen. Oft genügen für den Anfang kleine Schritte. Wenn Ihre Freundin zum Beispiel ihren Job furchtbar findet, entdeckt sie immer neue Gründe, um ihre Haltung zu verfestigen. Sie könnten sie ermutigen, an ihrem Arbeitsplatz Dinge zu sehen, die schön sind. Der Pförtner, der immer nett grüßt. Der Kunde, mit dem sie interessante Gespräche hat. Wenn man mal anfängt, das Leben anders zu betrachten, macht man lauter neue Erfahrungen.

Nehmen wir an, ich stehe unter enormem Termindruck. Was kann ich tun, um die Situation zu entschärfen?

Achtsam sein. Das kann und soll man sowieso an jedem Tag, in jeder Sekunde sein. Wir gehen nicht behutsam genug mit der Gegenwart um. Wenn man sich aber immer auf das Nachher fixiert, begibt man sich in einen Zustand permanenter Atemlosigkeit: Das, was ist, ist dann nie perfekt. Man verliert das Jetzt aus den Augen – was absurd ist, denn wir leben nun mal jetzt und nicht morgen oder übermorgen. Man wird gehetzt und nervös, oft auch unfreundlich und gereizt, weil nie etwas schnell genug gehen kann. Wenn wir uns aber konzentrieren auf das, was wir gerade tun, wenn wir dieser Tätigkeit sorgfältig und aus vollem Herzen nachgehen, wenn der Weg zum Teil des Ziels wird, verschwindet die Genervtheit, und es entsteht wie von selbst ein Gefühl der Entspannung.

Quelle, Autor Prof Gerhald Hüther